
Bei Ebbe machen sich die Muschelsammlerinnen im kolumbianischen Santa Bárbara
in die Mangroven auf, um nach Piangua-Muscheln zu suchen. Es ist keine
einfache Arbeit: Die Frauen werden von Moskitos gestochen und müssen
aufpassen, dass ihnen die Fische im flachen Wasser nicht in die Waden
beißen. Der Lohn für vier Stunden Arbeit: fünf Euro, von denen noch die
Ausgaben für das Benzin abgehen. Immer häufiger müssen die
Muschelsammlerinnen Motorboote nutzen, um in entferntere Gebiete zu
gelangen, denn viele Sammelstellen in der näheren Umgebung sind längst
abgeerntet und benötigen einige Zeit, damit sich der Bestand wieder
erholt. Mit ihren Paddelbooten kommen sie nicht weit. Andere
Möglichkeiten, um Geld zu verdienen, gibt es kaum in der Nariño-Region
im Südwesten Kolumbiens. In den feuchten Mangrovenwäldern lässt sich
keine Landwirtschaft betreiben. Nur das Sammeln von Piangua-Muscheln
bleibt den Frauen als Zubrot, während die Männer auf dem Fluss oder auf
dem Meer Fische und Garnelen fangen. Wohin das führt, zeigt sich im
Nachbarland Ecuador. Dort ist die Piangua inzwischen so gut wie
ausgestorben. Um den Bedarf weiterhin zu decken, werden die Muscheln
mittlerweile aus Kolumbien importiert.

Wie lässt sich in der Nariño-Region eine nachhaltige Entwicklung fördern?
So lautet — grob gefasst — die zentrale Forschungsfrage von „InnoPiangua“, einem Gemeinschaftsprojekt der Universidad de los Andes in Bogotá und der HTW Berlin unter der Leitung von Prof. Dr.
Barbara Praetorius. Wie komplex die Thematik tatsächlich ist, wird im
Gespräch mit Stefan Sorge schnell klar. Er ist wissenschaftlicher
Mitarbeiter an der HTW Berlin und hat zu Feldforschungszwecken zwei
Monate in Kolumbien verbracht. „Es macht keinen Sinn, sich nur einzelne
Aspekte herauszugreifen, weil alles miteinander zusammenhängt“, sagt
Sorge. „Deshalb berücksichtigen wir die gesamte Wertschöpfungskette von
der Muschelsammlerin/vom Fischer bis hin zu den Konsumentinnen und
Konsumenten. Und wenn man wirklich nachhaltig etwas verändern möchte,
darf man nicht nur die ökologische Komponente in den Vordergrund
stellen, sondern muss auch soziale, ökonomische und politische Faktoren
berücksichtigen.“
Ökologische Nachhaltigkeit: Wie kann man verhindern, dass die Piangua-Muschel ausstirbt?
Die
Antwort ist einfach: Um die Population zu erhalten, dürfen nur so viele
Piangua gesammelt werden, wie auch nachwachsen. Derzeit werden die
Muscheln häufig geerntet, bevor sie fortpflanzungsfähig sind.
„InnoPiangua“ hat damit begonnen, die Kanus der Muschelsammlerinnen mit
Elektromotoren auszustatten. Dadurch sparen sie das Geld für das Benzin,
das in ländlichen Gebieten wesentlich teurer ist als in den Städten.
„Es hat sich bereits gezeigt, dass die Frauen weniger Muscheln sammeln,
weil sie weniger Kosten für das Benzin haben“, stellt Stefan Sorge fest.
Das ist doppelt nachhaltig: Der reduzierte Muschelfang schont die
Population. Weniger Treibstoff bedeutet weniger Umweltverschmutzung und
Lärmbelästigung für Mensch und Tier.
Soziale Nachhaltigkeit: Warum sammeln Frauen Muscheln und Männer fangen Fische?
In
der Nariño-Region verdienen die Männer ihr Geld als Fischer und sind
damit die Hauptverdiener. Die Frauen sammeln lediglich Muscheln, um das
Einkommen aufzubessern. So sah die Rollenverteilung bislang aus, aber
das scheint sich zu ändern. "Durch die Elektroboote werden die
Muschelsammlerinnen zunehmend unabhängiger und beginnen, sich in
Genossenschaften zu organisieren", erzählt Stefan Sorge. "Sie geben ihre
Muscheln nicht mehr an die Fischer zu deren Konditionen ab, sondern
verhandeln selbst mit den Käufern." "InnoPiangua" kann man daher
durchaus als Empowerment in Richtung Gleichberechtigung begreifen.
Ökonomische Nachhaltigkeit: Was passiert, wenn alle nur noch mit Elektrobooten fahren?
Erst
einmal ist das eine schöne Vorstellung: keine Abgase mehr, kein Lärm
durch Motorengeräusche. Doch was machen dann die Tankstellenwärter und
die Mechaniker, die jetzt die Diesel- und Benzinmotoren reparieren? Auch
dafür sucht "InnoPiangua" nach Lösungsansätzen. "Die Tankstellen
könnten zu E-Tankstellen umgerüstet werden", so Sorge. "Die Mechaniker
könnten sich zu Elektrikern umschulen lassen, denn es werden Leute
gebraucht, die die weniger störungsanfälligen E-Motoren relativ einfach
warten und Solarpanels installieren und überprüfen können."
Politische Nachhaltigkeit: Was hat Forschung mit Diplomatie zu tun?
Kolumbien ist durch soziale Ungleichheit geprägt, die Nariño-Region
gehört zu den ärmsten Gegenden des Landes. Wer hier forscht, braucht
Verhandlungsgeschick. Welche Interessen hat der Bürgermeister in der
Stadt, welche der Gemeindevorsteher auf dem Land? Wo tritt man womöglich
den Guerilla oder den Paramilitärs auf die Füße? Hinzu kommen die
Erwartungen anderer Stakeholder: von Fischern,
Muschelsammlerinnen, Tankstellenwärtern, von Logistikfirmen, die die
Ware transportieren, von Restaurantbesitzern, von Konsumentinnen und
Konsumenten. Wie diese Ansprüche miteinander vereinbar sind und wie sie
mit dem Angebot auf dem Markt korrespondieren, muss Stefan Sorge
herausfinden. Deshalb sucht er fortwährend nach neuen Partnern aus der
Wirtschaft: "Erst letztens habe ich eine Schiffswerft in Bremen besucht,
die ihre Boote aus Hanf- und Leinenfasern, Kork oder recycelten
PET-Flaschen bauen. Die Produktionsweise und die Verwendung neuer Fasern
wie Bambus, der in Kolumbien reichlich vorhanden ist, wäre auch sehr
interessant für den Bau von Fischerbooten in der kolumbianischen
Küstenregion. Das könnte zusätzlich Arbeitsplätze schaffen."

Eins
dürfte an dieser Stelle deutlich geworden sein: Die Liste der
Forschungsfragen ist lang. "InnoPiangua" versteht Stefan Sorge deshalb
nur als Auftakt. Am Ende des auf 18 Monate angelegten Projekts wird der
Antrag für ein großes Forschungsprojekt stehen.
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